Aufgrund starken Schneefalls nimmt Connie den Geländewagen ihres Mannes, als sie zu einem Termin fährt. Auf der Heimfahrt folgt sie der Kurzwahl “Zuhause” des Navis und landet statt in ihrem eigenen Cottage an einem Ort, der ihr vollkommen fremd ist: Bentley Grove 11, Cambridge. Ihr erster Gedanke: Ihr Mann Christopher führt ein Doppelleben. Sie stellt ihn zur Rede, doch er streitet alles ab. Connie müsse die Adresse selbst eingegeben haben oder es sei ein Programmierfehler der Herstellerfirma. Connie, schon länger psychisch nicht die stabilste, beginnt an allem zu zweifeln. An ihrem Mann, an sich selbst, an ihren Eltern, an ihrem Leben. Ihre Zweifel treiben sie immer wieder nach Cambridge, Bentley Grove 11 wird ihr zur Obsession. Eines Tages steht vor diesem von ihr erfolglos beobachteten Haus eine zu-verkaufen-Offerte. Sie wartet des Nachts, bis ihr Mann tief schläft und klickt sich dann im Internet durch die Website des Maklers. Als sie den virtuellen Rundgang durch das Objekt ihrer Obsession beginnt, sieht sie Schauriges. Im Wohnzimmer liegt die blutüberströmte Leiche einer Frau, die ihr selbst erschreckend ähnlich sieht. Halb benommen vor Schock und Angst weckt sie ihren Mann, doch als er den virtuellen Rundgang startet, ist von einer Leiche nichts zu sehen. Wird ihr jemand glauben, wird jemand ermitteln oder ist Connie auf dem direkten Weg in die Pyschiatrie?
Die für sorgfältig konstruierte Psycho-Thriller bekannte Autorin Sophie Hannah hat diesen Krimi abwechselnd aus der Ich-Perspektive Connies und der 3.Person-Perspektive der polizeilichen Ermittler geschrieben. Dabei ist vor allem die Ich-Perspektive mutig. Denn es ist nicht nur die Perspektive eines möglichen Opfers, sondern zugleich auch die einer Frau, deren Neurosen sich langsam zur Paranoia auswachsen. Ob berechtigt oder unberechtigt, wird sich weisen. Das ist zunächst interessant, sehr bald wird es dann beklemmend und richtiggehend nervig. Dieses Nervige ist gewollt, der Leser muss es aushalten, will er erfahren, wie es weitergeht. Denn die Autorin will nicht nur einen spannenden Plot erzählen, sie seziert das psychotische Innenleben ihrer Hauptfigur bis zum Exzess und zeigt beeindruckend, was Paranoia aus einem Menschen machen kann. Während die beteiligten Ermittler schon bald ein wenig Dunkel in die mysteriöse Geschichte bringen, bleibt Connie desorientiert bis zum Schluß. Sie kann die Horror-Geschichte, deren Hauptdarstellerin sie selber ist, lange nur fragmentarisch zusammensetzen. Aber letztlich ist es ihre Panik, ihre Angst, die sie dazu treibt, verbissen und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen die ganze Geschichte Stück für Stück zusammenzutragen, solange, bis sie endlich das ganze Bild sehen kann.
Der Plot beginnt unvermittelt im Leben von Connie mit einer Szene, die den Leser über das ganze Buch und die teilweise etwas langen psychologischen Deutungen dazu motiviert, bei der Stange zu bleiben. Denn egal, was im Buch passiert, der Leser grübelt die ganze Zeit, wie wohl was mit wem zusammenhängt und was da jetzt eigentlich wirklich passiert ist. Das fremde Haus ist ein Thriller, der mit sehr wenig Action auskommt und auf Spannung baut, die sich aus unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven ergeben. Was ist wirklich so, wie es scheint, was ist anders und warum und gibt es nicht vielleicht noch eine weitere Ebene, die nur noch keiner sehen kann. Letzten Endes geht es um die Frage: Wessen Intuition ist die sicherste? Es erhöt die Subtilität der Erzählung, dass nur auf den ersten Blick alle Charaktere “normal” erscheinen. Denn schon auf den zweiten Blick ist zu erkennen, dass fast jeder Protagonist mindestens eine verborgene Macke hat. Was – wenn man es sich genau überlegt, ja eigentlich auch wieder normal ist. Als kleines Sahnehäubchen gibt es in diesem Verwirrspiel noch einige schrullige Ermittler, unter anderem das frisch verheiratete Team Charlie Zailer und Simon Waterhouse, bereits bekannt aus älteren Sophie-Hannah-Krimis, deren junges Glück durch das Geschehen einer Belastungsprobe unterzogen wird. Bei allem Verwirrspiel und den diversen kleinen Nebenhandlungen behält die Autorin gekonnt den roten Faden und führt diesen immer wieder an seinen Ausgangspunkt zurück. Von einem Happy End weit entfernt, ist die Auflösung dennoch gut und schlüssig gemacht. Fazit: Spannender Psychothriller, gute Unterhaltung.
Sophie Hannah
Das fremde Haus
Bastei Lübbe 2013
ISBN 978-3-404-16769-2
492 Seiten