“Und ist ihm sonst auch nichts gelungen, dann macht er in Versicherungen”. Hätte Marko Theunissen eine mit ähnlich klugen Lebensweisheiten gesegnete Omma gehabt wie ich, wäre ihm sicher das ein oder andere erspart geblieben. Ganz recht. Marko Theunissen. Der Held aus “Warum Du mich verlassen hast” begegnet uns in seinen romantischen Jahren wieder. Noch lange nicht erwachsen geworden, aber ins Erwachsenenleben integriert. Der Literaturstudent mit reichlich Flausen im Kopf ist nun Versicherungsvertreter. Oder auch Agent. Weil sich das besser anhört, befindet Joe, seine kleine Freundin aus der Nachbarschaft.
Paul Ingendaay erzählt in seinem zweiten Roman die Lebensgeschichte eines Mannes weiter, der nicht so genau weiß, was sein Lebenstraum ist und sich vielleicht genau deswegen nachgerade trotzig dazu entschließt, die Lebensträume und Risiken anderer zu versichern. Denn wie um alles in der Welt kann man Romantiker sein und doch Versicherungsvertreter an der gönne Kant des tiefsten Niederrheins werden? Wie kann es sein, dass einer zehn Jahre lang Literaturwissenschaften studiert, Bildungsreisen inclusive und sich plötzlich in der Ellenbogenwelt des vertriebsorientierten Kundensprechs, der Bonifikationen, der “Ich-hab-da-zwei-Leben-in-der- Anbahnung” – Abschlussgeilheit wieder findet? Während Theunissen in einer Branche, welche “hinreichend Platz für alle Gemeinheiten der Menschennatur bietet” , die Balance zwischen Überleben und Fairneß zu halten sucht, kämpft er gleichzeitig an den ältesten Fronten der Menschheit: Den Verflechtungen der Liebe und denen mit der eigenen Familie. Gewonnene Einsichten sowohl aus dem “Haifischbecken” der Versicherungsbranche als auch aus dem nicht minder bissigen Umfeld des Literaturbetriebs helfen ihm dabei..”Menschen neigen dazu, sich selbst als Einzelfall zu sehen und deshalb vom Schicksal eine Einzelfallsbehandlung zu erwarten.”
Ingendaay erzählt fabulierfreudig, mit der Sprache spielend, eine ganz normale Geschichte. Eine Geschichte, wie sie heutzutage wohl eher die Regel denn die Ausnahme ist. Eine Geschichte von Unentschlossenheit, von zerplatzten Lebensentwürfen, von verratenen Idealen und Selbstbetrug. Er erzählt sie liebevoll, von viel Verständnis für die sich so schnell in Schubladen stecken lassenden Menschen getragen. Er weiß, dass “je mehr Entscheidungen wir dann aber treffen, umso kleiner werden die Chancen auf einen ganz anderen Lebensentwurf”. Mit einem guten Gespür für Würde und Würdelosigkeit mischt der Erzähler sich mit feiner Ironie ein und lenkt die Dinge in eine zwar von Kompromissen getragene, aber durchaus befriedigende Richtung. Denn “das Schicksal schlägt auch nicht zu. Es hat ja keine Arme. Das Schicksal ist, was wir sind. Unser Schicksal ist die Summe unserer wechselnden Zustände in einem gegebenen zeitlichen Rahmen.”
Der Autor selbst nennt sein Buch “den Roman der verpassten Möglichkeiten”. Kennen wir das nicht alle? Der Klappentext verspricht “den Sieg der Möglicheit über die graue Realität”. Wünschen wir uns das nicht alle? Und tatsächlich schafft es unser Held, sein Leben nicht zum emotionalen Schadensfall werden zu lasen und es gelingt ihm mit etwas Glück und viel Chuzpe einem äußerst widerwärtigen Exemplar von Kollegen (kennen wir den nicht auch alle?) das Handwerk mit Hilfe von “Rosinenschnecken” zu legen. Sehr gelungenes Ende!
Marko Theunissen ist die meiste Zeit “glücklich immer nur gewesen ” und rettet sein Motto “Ich bin liebenswürdig, sinnenfroh, grausam und einsam” in eine Zukunft, von der hoffentlich weiter zu lesen sein wird. Ich für meinen Teil werde einige der ebenso klugen wie verqueren Einsichten des Herrn Versicherungsagenten behalten und ganz besonders das schöne spanische Sprichwort “Dar tiempo al tiempo” (Der Zeit muss man Zeit geben) zu beherzigen suchen.
Der Autor: Paul Ingendaay lebt seit 1998 mit seiner Familie in Madrid als Kulturkorrespondent der FAZ. Einem breiteren Publikum ist er nicht nur als Herausgeber der Gesamtausgabe von Patricia Highsmith bekannt, sondern auch als Autor der beliebten “Gebrauchsanweisung für Spanien”. Mit dem Alfred-Kern-Preis ausgezeichnet, hat er sich auch als Literaturkritiker einen Namen gemacht. Insofern freut es ganz besonders, dass Ingendaay mit den romantischen Jahren schon den zweiten exzeptionell guten Roman vorgelegt hat.
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift