De Subtilitate. Von der Feinheit der Welt und des Denkens

Wir leben in einer Welt zunehmender Spezialisierung, eine Entwicklung, die dem rasant wachsenden Wissensstand in Wissenschaft und Technik geschuldet ist. Doch während Spezialisten in ihren engen Fachgebieten brillieren, sind die Risiken und Nebenwirkungen dieser Spezialisierung weithin bekannt. In dieser Zeit des Wissens-Turms zu Babel blicken wir mit ehrfürchtigem Staunen auf jene seltenen Persönlichkeiten, die ein umfassendes Weltverständnis verkörpern.

Girolamo Cardano und sein bahnbrechendes Werk

 

Eine solche herausragende Figur ist Girolamo Cardano (1501–1576), der Verfasser des bahnbrechenden Werkes „De Subtilitate“. Nach ihm ist die Kardanwelle benannt; er war ein Universalgelehrter, dessen Enzyklopädie als gewaltige Wunderkammer des Wissens gilt. Nun liegt dieses monumentale Werk vollständig überarbeitet erstmals in deutscher Sprache vor und bietet uns einen faszinierenden Einblick in die Denkwelt eines der größten Gelehrten des 16. Jahrhunderts.

Enormer Umfang von „De Subtilitate“

 

Girolamo Cardano. Gravur von R. Cooper © Wikipedia

Die „vollständige Darstellung des Universums in einem Band“ ist das Versprechen, das Girolamo Cardano (1501–1576) für sein Werk „De Subtilitate“ abgibt. Er versichert, dass derjenige, „der das hier Geschriebene begreift, eine vollkommene und vollständige Kenntnis sämtlichen Wissens haben wird“. Der Schlüssel dazu? – Die Subtilität (subtilitas).

„De Subtilitate“ (der Titel bedeutet wörtlich übersetzt „Von der Subtilität“ oder auch „Über die Feinheit“) präsentiert einen fantastischen Bilderbogen, der das gesamte Wissen der Renaissance umspannt. Dabei geht es nicht nur um den grundlegenden Aufbau der Welt, den Kosmos, die Elemente, Tiere und Pflanzen, sondern zudem um eine unüberschaubare Menge von Themen, von alltäglich bis kurios.

Vielfalt der Themen und Anwendungsgebiete

 

Wie groß ist ein Regenbogen? Warum gibt es keine giftigen Vögel? Welcher Edelstein schützt am besten vor Unfällen? Wie entlarvt man Scharlatane und Betrüger? Es geht um Maschinenbau, Geheimschriften, die Haltbarmachung von Lebensmitteln, die Existenz von Gespenstern; und Cardano liefert zahlreiche Rezepte für Farben, Schnaps, für Cremes zur Lippenpflege oder Mittel zur Luststeigerung.

Wir erfahren das gesammelte Wissen der europäischen Renaissance über Dämonen und Glücksspieler, wir lernen die Bedeutung von Pflanzen und Tierhäuten kennen, lesen von der Deutung der Träume und der Horoskope. Cardano liefert mit seinem Monumentalwerk eine vollständige Naturphilosophie. Manches macht aus der Sicht unseres heutigen Wissens schmunzeln, anderes wiederum ist nützlich, zumal es zum versunkenen Wissen zählt. Vor allem das Alltagswissen seiner Zeit macht die Lektüre vergnüglich: Wie vertreibt man Mücken? Warum funkeln Sterne? Wie macht man Lebensmittel haltbar? Dies sind nur einige der zahllosen Themen, denen sich der Verfasser widmet.

Neuauflage von Martin Regenbrecht

 

Verleger Martin Regenbrecht nennt Cardanos Buch „eine Mischung aus Aristoteles, einem modernen Ratgeber und einer TerraX-Dokumentation“. Er hat das monumentale Werk neu herausgegeben und dazu die 2013 erschienene englischsprachige Ausgabe des Werks von John M. Forrester unter ausführlicher Berücksichtigung des lateinischen Originals übersetzt. Es handelt sich um eine ungekürzte Leseausgabe, auf den kritischen Apparat wurde weitgehend verzichtet, die Zahl der Fußnoten auf ein Minimum reduziert und ein Schlagwortregister hinzugefügt.

Kleinverlag mit großer Mission

 

Man mag kaum fragen, wie viel Zeit Martin Regenbrecht in die Übertragung des Werkes investiert hat und was ihn letztendlich geritten hat, dieses fast zwei Kilo schwere Werk herauszugeben. Aber das ist eben die außerordentliche Leistung eines Kleinverlages, der fern von ökonomischen Überlegungen oder öffentlicher Subvention der Manie seines Inhabers folgt, der sich geradezu getrieben fühlt, ungewöhnliche und höchst eigenwillige Bücher wieder ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Regenbrecht war offensichtlich fasziniert von der Vielfalt der Themen, die Cardano behandelte und möchte dem Verfasser mit der Herausgabe einen angemessenen Platz in der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte zuweisen.

Historische Bedeutung und Vergessenheit

 

„De Subtilitate“ galt lange Zeit als Standardwerk; es erlebte viele Neuauflagen bis hin zu einer umfangreichen Gesamtausgabe von Cardanos Werken 1663. Lessing verfasste 1754 eine Verteidigungsschrift mit dem Titel „Rettung des Hieronymus Cardanus“; danach war Cardano, der auch von der Inquisition verfolgt wurde, noch 200 Jahre nach der Erstauflage aktuell und umstritten. Im Laufe der Zeit ist er in Vergessenheit geraten, so weit, dass heute fast niemand mehr den Namen kennt. Zu Unrecht: Der englische Übersetzer John M. Forrester schreibt, das Werk sei ein „riesiger blühender Garten“, in dem wir wie kleine Raupen nur winzige Bereiche erkunden können.

Ein Muss für jeden Wissensdurstigen

 

Cardanos vollständige Beschreibung des Universums in einem Band ist ein Leckerbissen für jeden aufgeschlossenen Leser. Das gesammelte Weltwissen der Renaissance zwischen zwei Buchdeckeln sollte in keinem Bücherschrank fehlen. Es bietet einen wertvollen Schlussstein im Kosmos des Weltwissens.

 


Genre: Naturwissenschaften, Philosophie
Illustrated by Martin Regenbrecht

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