Dreifach diskriminiert
Im Themenspektrum zeitgenössischer deutscher Belletristik hat inzwischen auch die Rassismus-Problematik einen festen Platz, Olivia Wenzel liefert mit ihrem Romandebüt «1000 Serpentinen Angst» einen vielbeachteten Beitrag dazu. Die junge, künstlerisch vielseitig tätige Schriftstellerin, als ‹Afrodeutsche› in Weimar geboren, bezeichnet ihren autofiktionalen Roman im Interview mit der taz als «Coming-out als Nicht-Weiße». Ein Entwicklungsroman also, dessen Protagonistin nicht sie selber sei, sondern eine «düstere Variante» von ihr, mit der sie allerdings die titelgebende ‹Angst› gemeinsam habe. Nachdem sie aus Thüringen weggezogen sei, spüre sie deutlich eine Entspannung, im Bus schaue sie sich nicht mehr «die ganze Zeit um, ob irgendwo Nazis sitzen. Und ich schaue auch nicht, wer mit mir aussteigt».
Dieser Roman behandelt die Konsequenzen, die sich aus der dreifachen Diskriminierung als Farbige, Frau und Ossi für die namenlose, 35jährige Protagonistin ergeben. Ihr Vater musste die DDR verlassen und ist nach Afrika zurückgegangen, es besteht nur ein loser Kontakt mit ihm per E-Mail. Einmal hat sie ihn in Angola besucht, als erfolgreicher Geschäftsmann unterstützt er sie seit einiger Zeit auch finanziell. Die Mutter hatte als aufmüpfige Punkerin im sozialistischen Arbeiter- und Bauernparadies viele Probleme, sie hat mehrfach versucht, ihre Zwillingskinder wegzugeben und auszureisen. Auch heute steckt sie scheinbar immer noch in nicht genannten Schwierigkeiten, jedenfalls versteckt sie sich vor irgendwem. Der Zwillingsbruder nahm sich 17jährig das Leben, die einst linientreue Großmutter hat sich politisch nach rechts orientiert und wird bei der nächsten Wahl ‹die Rechten› wählen. Nach diversen heterosexuellen Affären und Beziehungen hat die Protagonistin in der Vietnamesin Kim eine lesbische Lebensgefährtin gefunden, und zu guter Letzt wird sie dann auch noch schwanger und ist damit ziemlich überfordert.
All dies ist nicht in einen als Handlung zu bezeichnenden Plot eingebettet, der dreiteilige Roman berichtet vielmehr extrem fragmentarisch davon, und zwar in einer an das Theater erinnernden, dialogischen Erzählform. Diese Gedankensplitter sind weder chronologisch noch thematisch geordnet, sie folgen eher der chaotischen Weise, in der verschiedenste Reflexionen gedanklich spontan verarbeitet werden. Leitmotivisch erscheint dabei häufig ein Verkaufsautomat, der einerseits die materielle Gier des Kindes nach Kaugummis oder irgendwelchem Tinnef ausdrückt, den man mittels Taschengeld aus dessen Schublade entnehmen kann. Die Ich-Erzählerin imaginiert ihn aber auch in den verschiedensten Träumen als einen Zufluchtsort vor den Bedrohungen der Welt, in den sie sich dann immer wieder verkriecht. Wegen ihrer Angstpsychose ist sie bei drei verschiedenen Therapeuten in Behandlung, ohne dass man ihr wirklich helfen kann. Ihre Probleme lägen ja nicht in der Vergangenheit, heißt es, sondern sind gegenwärtig. «Sie sind in unserem Land eben eine Minderheit» lautet lapidar die wenig hilfreiche Diagnose.
Stilistisch ungewöhnlich ist die verhörartige Erzählweise, mit der die Autorin ihr Thema rassistischer Ausgegrenztheit literarisch umsetzt, eine der Stimmen stellt immer wieder übergriffige Fragen. Die Sprache dabei ist lässig, ein flippiger, betont heutiger Jugendslang, der häufig mit englischen Einschüben angereichert ist und in seiner Lakonie oft zum Schmunzeln Anlass gibt. Wer da jeweils spricht bei diesen funkelnden Wortgefechten, das ist ungewiss, die Stimme aus dem Off beeinträchtigt jedoch weder Lesefluss noch Verständnis. «Woran denke ich, was unterschlage ich?» ist alles, was die Autorin vermitteln will. Und sie findet dafür in einer Art Katharsis eine versöhnliche Formel, indem sie bekennt, dass es ihr gut geht in Berlin und auch, dass sie ihre Identität keinesfalls verdrängen darf. Also versucht sie selbstbewusst, sich gesellschaftlich zu emanzipieren, – ihr als Leser dabei zu folgen, lohnt sich.
Fazit: lesenswert
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