Sie sind verheiratet? Haben Kinder? Gehen einer regelmässigen Berufstätigkeit als Angestellter nach?
Dann stellen Sie sich Folgendes vor.
Sie kommen mit Ihrer Familie aus Ihrem zweiwöchigen Sommerurlaub an einem spanischen Strand nach Hause ins Einfamilienheim und haben schon das Gröbste aus- oder eingeräumt. Alles wie immer. Die Wäsche liegt bereits vor der Waschmaschine, die Kinder sind im Bett. Gemütlich setzen Sie sich mit Ihrer Frau auf die Terrassenbank, geniessen ein Glas Wein und lesen ein wenig in den aufgelaufenen Zeitungen. Bis dahin alles bekannt? Abwarten.
Die Frau steht auf, um nach dem rufenden Sohn zu schauen und geht danach vom Tag ermüdet direkt ins Bad und Bett. Der Mann steht ebenfalls auf und geht zum Gartentor und verlässt das Grundstück. Er hat nichts dabei außer den Kleidern, die er noch von der Fahrt am Leib trägt, ein paar simple Utensilien in der Tasche, ein wenig Bargeld und eine Kreditkarte. Er geht einfach weiter. Stunde um Stunde, die ganze Nacht, die folgenden Tage, Wochen.
Das Alltagsleben ist so perfekt abgestimmt, funktionell und ablaufoptimiert, dass seine Frau sein Fehlen erst am Nachmittag des Folgetages so richtig realisiert.
So beginnt die Geschichte im Roman von Peter Stamm.
An dieser Stelle rauscht einem das erste Wow durch den Kopf und an dieser Stelle beginnt auch eine Polarisierung, die das Buch ganz zwangsläufig mit sich bringt und die die Leser während der gesamten Lektüre in zwei Lager teilen wird.
Da sind die einen – und das ist völlig geschlechtsunabhängig – die sagen werden „Wie kann er so etwas tun, seine Familie im Stich lassen?“. Und da sind die anderen, die aufschreien „Kann ich mich absolut hineinversetzen, habe ich auch schon oft daran gedacht“.
Natürlich wartet man auf Anhaltspunkte, auf Antworten nach dem Warum. Und die gibt es, wenn man einen Peter Stamm lesen kann. Wie immer schreibt er auch in diesem Werk in seinem verdichteten, minimalistischen Stil, der ihn auf den ersten Blick eher zum Krimi-Autor zu prädestinieren scheint. Aber da sind die vielen Stimmungsbilder, die er nicht mit üppigen Ölfarben, sondern mit dem Kohlestift skizziert, die aber dennoch alle Informationen enthalten, um die Charaktere von Mann und Frau zu psychoanalysieren, um die Entwicklung retrospektiv kommen zu sehen, um zu verstehen. Es ist wie immer nicht nur die Flucht eines Ehepartners aus der Versklavung innerhalb der Strukturen einer Familie. Es ist nicht nur die vordergründig heile, im Kern aber zerbrochene Beziehung. Es ist viel subtiler. Und genau deshalb passt Stamm’s subtiler Stil einmal mehr genau zu dem, was er schreibt.
Natürlich lebt das Buch auch von der Spannung, wie solch eine Geschichte wohl ausgehen wird. Wie in Hollywood als Happy End in rosa Wolken oder wie im wirklichen Leben mit Scheidungskämpfen bis aufs Blut? Nein ganz anders. Nach dem Wow-Anfang kann bei Peter Stamm fast nur ein Wow-Ende folgen. Und aus den Parallelen und Denkanstößen zwischen Anfang und Ende kann man sich als LeserIn seine eigenen Wow’s generieren.