Club der toten Dichter
Er ist durch seine Lyrik bekannt, gilt in Deutschland als politisch engagierter Intellektueller, der sich auch vielseitig essayistisch betätigt, nun hat der unermüdliche Hans Magnus Enzensberger mit «Überlebenskünstler» ein neues Buch mit dem Untertitel «99 literarische Vignetten aus dem zwanzigsten Jahrhundert» vorgelegt. Ein Blick in den Klappentext macht neugierig, wird doch dort eine «Blütezeit von Schriftstellern» heraufbeschworen, die Aufmerksamkeit des Autors gelte exklusiv all jenen, die dieses durch unsäglichen Staatsterror geprägte Jahrhundert überlebt haben.
Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis offenbart, dass es sich hier um eine Art «Club der toten Dichter» handelt, außer dem albanischen Schriftsteller Ismail Kadare sind alle tot. Warum nun ausgerechnet «dieser undurchsichtige Mensch», dessen missratenen Roman «Die Dämmerung der Steppengötter» der Autor unerklärlicher Weise «nicht in die Ecke warf», als einzige Ausnahme hinzugefügt wurde, bleibt selbst ihm ein Rätsel. In seinem mit «Absicht, Mängel und Haftungsausschluß» betitelten Vorwort erklärt Enzensberger seine Vorgehensweise: «Wer kein Historiker ist, kann und muss kein Kompendium liefern und keine unanfechtbaren Beweise führen. Er darf sich an einen subjektiven Erzählton und an eine subjektive Auswahl seiner Beispiele halten». Und so wird denn auch das chronologisch nach Geburtsdatum angelegte Inhaltsverzeichnis selbst einigermaßen belesene Literaturfans ernüchtern, denen etliche Namen noch nie begegnet sind. Ungeklärt bleibt auch, warum denn die Selbstmörder, von denen es ja genug gab unter den Literaten, allesamt ausgeklammert sind. Das Kapitel über Ingeborg Bachmann beginnt denn auch prompt mit dem rechtfertigenden Satz: «Es war kein Selbstmord», – ansonsten hätte er bei dieser Lyrik-Ikone bestimmt eine Ausnahme gemacht.
Dem Buchtitel entsprechend arbeitet der Autor bei den Vignetten seiner literarischen Heroen insbesondere auch deren Lebensumstände in Hinblick auf die politischen Verwerfungen dieses kriegsgebeutelten Jahrhunderts heraus. Weil die aber nicht immer lebensbedrohlich waren, sich manchmal sogar als äußerst kommod herausstellten, taugt der durch den Buchtitel vorgegebene Begriff «Überlebenskünstler» kaum als narrative Klammer, wie es das Vorwort postuliert. Es gibt sogar etliche Vignetten, in denen dieses Thema gar nicht berührt wird. Überhaupt schert sich Enzensberger weder um Systematik noch um Plausibilität, er erzählt unbekümmert in einem angenehm lesbaren Plauderton kurz und prägnant von seinen verstorbenen Kollegen, wobei man viele hochinteressante Details über sie erfährt. Was deren literarischen Qualitäten anbelangt, so nimmt er kein Blatt vor den Mund, manches Buch und mancher Schriftsteller wird da harsch kritisiert oder auch unverblümt verrissen, Elias Canetti oder Henry Miller seien als Beispiele genannt.
Ganz typisch für seine Chuzpe ist es, wenn er bei der Vignette über Ilse Aichinger von einer literarischen «Clique» schreibt, «der ziemlich überschätzten Gruppe 47», – er selbst war ja lange genug dabei. Am besten aber sind die persönlichen Begegnungen des Autors mit einer Reihe berühmter Kollegen, über die hier – nicht ganz uneitel – berichtet wird, es gibt zudem viele erbauliche Anekdoten und manche Insider-Information in diesem literarischen Kompendium. Es gibt aber auch scharfsinnige Kritik an der Haltung einiger Kollegen, viele waren korrumpierbar, politisch unzurechnungsfähig oder einfach «nicht ganz dicht». Jeder dieser ebenso augenzwinkernd wie pointiert verfassten, kolumnenartigen Kurztexte ist amüsant zu lesen, sie wollen weder ästhetische Analyse noch kontemplatives Lehrstück sein. Ob sich diese Lektüre lohnt, ist leider schwer zu beantworten. Eine erfreuliche Bestätigung eigener Belesenheit ist es allemal, wenn man schließlich doch auf etliche bekannte Autoren trifft, – andere, aus heutiger Sicht randständige Schriftsteller hingegen harren ihrer Entdeckung durch mutige Leser.
Fazit: mäßig
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