Wer stiehlt schon Unterschenkel?

Prokop erzählt im Prolog seines Werkes, wie er in der Skybar eines Chicagoer Wolkenkratzers Bekanntschaft mit einem eitlen, arroganten und versnobten Zwerg namens Timothy Truckle schließt. Die äußerst trinkfeste Attraktion der Bar gilt als der beste Detektiv der Vereinigten Staaten. Mittels glänzender Kombinationsgabe, gut informierter Freunde und einem mächtigen Elektronengehirn namens Napoleon löst »Tiny« Truckle schwierigste Kriminalfälle.

Der Autor schildert darauf einige dieser Fälle, die dem Leser höchst seltsam anmuten. Warum werden zur Transplantation vorbereitete Unterschenkel gestohlen und wieder zurückgegeben? Wieso verschwinden auf mysteriöse Weise Eisberge, die zur Trinkwasserversorgung der USA aus dem Eismeer herangeschleppt werden? Wer hat zwei Mitglieder des aus den einflussreichsten Pharmabossen bestehenden »Clubs der Unsterblichen« ermordet?

In der Auflösung der Fälle wird deutlich, dass Truckle in einer Welt ermittelt, die einer totalen Überwachung durch Staatsorgane unterliegt, denen kein Schritt und kein Gedanke der Bürger entgeht. Es ist eine Gesellschaft, in der übermächtige Konzerne alles und jeden beherrschen und dem Einzelnen keinerlei Freiraum geschenkt wird. Es herrscht Mangel an Trinkwasser und Grundnahrungsmitteln, die Städte sind von einer undurchdringlichen Smogschicht bedeckt, und zum Betrachten eines Sonnenuntergangs müssen die Bewohner in Skybars gehen, die viele tausend Stockwerke hoch über den Wolken liegen.

Truckle, der Held der Erzählungen, arbeitet offiziell für die Mächtigen und hilft zugleich einer Untergrundbewegung, von der in Andeutungen die Rede ist. Dabei schützt ihn ein Mausoleum, das er den staatlichen Gewalten aufgrund seiner kriminalistischen Erfolge abgetrotzt hat, und in dem er ohne fremde Ohren und »Elektronenaugen« sprechen und arbeiten kann. In diesem abhörsicheren Raum nimmt er Kontakt mit dem »Großen Bruder« auf, der ihm Zugang zu den Rechnersystemen des Staatsapparates verschafft. Dieser steht jedoch, anders als in Orwells Roman »1984«, der Prokop Pate gestanden hat, auf der Seite der Systemkritiker und symbolisiert nicht die Macht des Bösen.

»Wer stiehlt schon Unterschenkel« rangiert aufgrund seiner in der Zukunft spielenden Handlung als Science-Fiction-Literatur. Fortgesetzt wurden die Erzählungen um den zwergenhaften Meisterdetektiv in »Der Samenbankraub«. Es handelt sich dabei um eine Dystopie oder Anti-Utopie. Damit werden Geschichten bezeichnet, die in einer fiktiven Gesellschaft spielen, die sich zum Negativen entwickelt hat. Die Erzählungen waren in der DDR vor allem unter kritischen Geistern bekannt, und auch als Sciene-Fiction-Autor genoss Prokop im östlichen Deutschland einen guten Ruf. Außerdem hat der Autor eine ganze Generation DDR-Kinder und Jugendliche fasziniert und mit geprägt. Sein Kinderbuch »Detektiv Pinky« gilt als Klassiker der DDR-Kinderbuchliteratur und wird heute noch gern erinnert. 2001 wurde es sogar verfilmt.

Prokops Erzählungen um Timothy Truckle können als Kritik an den übermächtigen USA verstanden werden. Möglich ist aber auch die Deutung als eulenspiegelhaftes Schmunzeln über die Verhältnisse im eigenen Land, denn auch die DDR trug ausgeprägte Züge eines Überwachungsstaates. Gerade die Form der Zukunftsliteratur bot sich an, auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen hinzuweisen und diese kritisch zu beleuchten. 1977 erstmals veröffentlicht wirkt manches auf den heutigen Leser im Zuge der Entwicklung der letzten 40 Jahre allerdings technisch überholt. Ungeachtet dessen ist die Lektüre vergnüglich. Im Westen blieb Gert Prokop, der anno 1994 im Alter von 61 Jahren freiwillig aus dem Leben schied, weithin unbekannt.


Genre: Science-fiction
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Ortstermine

Er ist das genaue Gegenteil des schillernden »Richter Gnadenlos«. Seine Urteile offenbaren Feingefühl, Takt, Menschlichkeit und eine bei deutschen Juristen unerwartet große Portion Humor. Die Urteile des in Berlin aufgrund seiner amtskritischen Haltung »Das Phantom des Kriminalgerichts« genannten Strafrichters Rüdiger Warnstädt, lesen sich vergnüglich und bieten bisweilen sprachliche Bonbons. Jetzt legt Berlins originellster Richter sein drittes Buch vor.

»Recht so« und »Herr Richter, was spricht er«, die Titel seiner ersten beiden Bücher, waren schnell ausverkauft. In seinem dritten Werk, »Ortstermine« genannt, berichtet der inzwischen im Ruhestand befindliche Jurist nicht von Besichtigungen blutiger Tatorte. Warnstädt erzählt von seinen Reisen, genauer: von seinen Lesereisen, die ihn quer durch die Republik führen.

Die Lesungen des kauzigen Richters sind ebenso vergnüglich und erbaulich wie seine Texte selbst. Der Zuhörer spürt, dass der Mann gewohnt ist, vor Publikum vorzutragen und sich dabei selbst inszeniert. Er ist pointiert, spitzzüngig, antibürokratisch und dabei immer aufklärend und erzieherisch tätig. »Wann ist ein Richter subversiv«, »Wie viele Justizminister braucht die Bundesrepublik« sind typische Fragen, die der spätbürgerlich wirkende Humanist aufwirft und zum Vergnügen seiner Leser beantwortet.

Ein intelligentes Buch eines charmanten Autors!

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Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
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Die Erbschaft

Heribert Odelshausen, Mitarbeiter im Rat der Stadt Dresden, wird mit einer geheimnisvollen Erbschaft gesegnet. Aus erheblichem Anlagevermögen stehen ihm jährlich eine Million Westmark Zinserträge zu, und dieser Devisensegen verändert den braven DDR-Bürger gründlich und schnell. Es zieht ihn aufs Land, in die Welt seiner Kindheit. Dort errichtet er eine Prachtvilla, mietet Dienstboten an und lässt die begehrte Westkohle auf seine Familie und Umgebung regnen.

Der Arbeiter- und Bauernstaat hegt und pflegt den frisch gebackenen Multimillionär, denn der Geldsegen kommt letztlich dem sozialistischen Staat zugute und belebt dessen Wirtschaftskreislauf. Entscheidungen werden mit Hilfe von Farbfernsehern und anderen begehrten Luxusgütern vorangetrieben, ein Anruf »in Berlin« beseitigt Materialengpässe und erwirkt Genehmigungen, die dem normalsterblichen DDR-Bürger unerreichbar wären. Doch die Zeiten ändern sich, anno 1989 bricht das Land aus seinen Fugen, und auch für Heribert Odelshausen wendet sich das Schicksal.

Rolf Floß, Jahrgang 1936, hat eine Realsatire auf die längst versunkene DDR-Wirklichkeit geschrieben. Er siedelt seine Geschichte, wie aus zarten Andeutungen vermutet werden darf, in der Oberlausitz am Fuße des Hutberges im Naturraum Westlausitzer Hügel- und Bergland an. In dieser zu Honeckers Amtzeit im medialen Schatten liegenden Gegend nahe der Lessingstadt Kamenz lässt Floß seinen Protagonisten eine Geldsturzflut über die Dorfbevölkerung niedergehen und beschreibt das feine Geflecht der Beziehungen der mehrheitlich bäuerlichen Bevölkerung untereinander.

Stilistisch fühlt sich der Rezensent bei der Lektüre an ein klassisches Stück Gebrauchsliteratur aus der guten alten DDR erinnert. Der Roman liest sich, als sei ein Stück bislang unentdeckte DDR-Literatur ans Tageslicht geschwemmt worden. In betulich plätscherndem Stil wird emotionslos und ruhig der Handlungsfaden gewoben. Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen wird stets behutsam und fast lapidar eingeflochten. Dennoch oder gerade deshalb kann sich derjenige, der die Verhältnisse von damals erinnert, durchaus eines gelegentlichen Schmunzelns nicht erwehren.

Floß legt einen Roman vor, der in dieser Form auch in der ausklingenden DDR hätte erscheinen können. Denn es gab durchaus Werke in ähnlichem Duktus, die dort publiziert wurden. Erinnert sei an »Die Entgleisung« von Inge von Wangenheim. Insofern kommt der Text anderthalb Jahrzehnte zu spät. Unter heutigen Bedingungen lässt sich deshalb nur eine Zielgruppe für das Werk vermuten: es sind alt gediente DDR-Leser, die sich in Sprache und Stil wieder finden können.

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Genre: Romane
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