Seelenvermächtnis – Udo W.: Mein zweites Leben

“Nur” Träume oder doch mehr?

Seit seiner Kindheit plagen Udo Wieczorek Alpträume vom Ersten Weltkrieg. Als Erwachsener suchen ihn die Träume erneut heim und er beschließt, ihnen auf den Grund zu gehen. Zusammen mit seiner Freundin Daniela macht er Urlaub in der Region, in denen er den Ursprung seiner Träume vermutet: einem Tal in Südtirol, dessen Frontlinie durch Sexten verlief. Er selbst ist zum ersten Mal dort, trotzdem kommt ihm das Tal vertraut vor. Immer wieder stößt er während seiner Wanderungen auf vertraute Orte, die er im Traum schon einmal gesehen hat. Und immer wieder erlebt er an solchen Orten eine Art Flashback – er wird zurück in seine Träume versetzt, nur diesmal mit mehr Details. Außerdem bescheren sie ihm Fundstücke wie ein blechernes Kästchen mit einer halben Münze und zwei Briefe, da Wieczorek trotz Ortsunkenntnis genau weiß, wo er hingehen und suchen muss. Was er träumt, ist die Geschichte eines jungen Soldaten namens Vinz, der auf der italienischen Seite Südtirols aufgewachsen ist, später aber für die deutsche Seite kämpft. Sein bester Freund Josele kämpft weiterhin für Italien. Beide Männer sind in ein Mädchen namens Maria verliebt. Und beide erleiden ein tragisches Schicksal: Der Soldat erschießt aus Versehen seinen besten Freund, weil er ihn während des Krieges für einen Feind hält. Das ist der Auslöser der Träume, denn Vinz hat tiefe Schuldgefühle, die er auch im Sterben nicht loswird – er stirbt an seiner Kriegsverletzung. Während er stirbt hat er aber die Vision eines Mannes, der Jahrzehnte später seinen Brief finden wird. Und diesen Mann spricht er in seinem Brief an und bittet darum, dass diese Geschichte aufgeklärt wird.

Wieczorek fährt über die Jahre hinweg mehrmals nach Südtirol, versteht und spricht sogar den Dialekt, obwohl er kein Südtiroler ist. Später nimmt er Journalist Manfred Bomm mit, der seine Spurensuche weiter begleitet und dokumentiert. Dabei finden erst Wieczorek selbst und dann er zusammen mit Bomm weitere Hinweise auf Vinz und dessen Geschichte: Sie können Vinz‘ Familie ausmachen, von der dessen Nichte noch lebt, finden bei dieser Familie ein weiteres Kästchen, das der Sohn der Nichte sorgsam aufbewahrt hat, und entdecken des Weiteren eine Gedenkstätte mit den Namen der Gefallenen. Außerdem erkennt Wieczorek im Haus des Soldaten Dinge wieder und findet eine verblasste Zeichnung einer Sonnenuhr, von der er ebenfalls geträumt hat.

Das in sich abgeschlossene Buch schildert die Spurensuche des Autors Udo Wieczorek zu einem Leben, das er in der Gegenwart nicht selbst gelebt haben und von dem er nichts wissen kann. Wieczorek selbst ist sich unschlüssig, ob er dieses vergangene Leben selbst in einem anderen Körper erlebt hat oder ob er die Botschaften aus einer anderen Zeit sozusagen als Empfänger aufgefangen hat. Er ist in den Träumen und Flashbacks so sehr Vinz, dass er Mühe hat, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Wenn er aber erst einmal wieder zurück in der Realität ist, spricht er von dem Soldaten in der dritten Person. Allerdings neigt Wieczorek dazu, dass er selbst Vinz gewesen sein könnte. Die Theorie der Reinkarnation taucht aber erst gegen Ende des Buches als eine der Möglichkeiten auf, da beide Autoren rational denken und deshalb vorsichtig mit Vermutungen sind.

Das fällt im Buch immer wieder auf: Beide Autoren sind nicht darauf aus, das Ereignis aufzubauschen und Kapital daraus zu schlagen. Wieczorek hat lange Zeit nur seine Freundin eingeweiht, bevor er nach Überredung Bomms ein Buch dazu geschrieben hat. Er hat vorher nur einen fiktiven Roman verfasst, um seiner Erlebnisse zu verarbeiten. Dementsprechend schonungslos geht er die Sache an, indem er die Träume genau schildert und seine Emotionen und Gedanken dazu, sowie seine Überlegungen und die daraus erfolgten Konsequenzen in Form einer Spurensuche. Ebenso genau schildert er sein Leiden, wenn die Alpträume wiederkehren, und welche Belastung sie für ihn darstellen. Es ist keineswegs so, dass er sie als Gabe empfindet und damit hausieren geht, sondern er will im wahrsten Sinn des Wortes Seelenfrieden finden, indem er diese Träume wieder loswird. Und dieser Seelenfrieden wird ihm tatsächlich nach und nach zuteil, als sich die Puzzlestücke zusammenfügen, v.a. als das letzte große Puzzlestück an seinen Platz rückt.

Zwei Erfahrungsberichte in einem Buch zum selben Erlebnis

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Den ersten Teil seiner ersten Reisen erzählt Wieczorek selbst, den zweiten übernimmt v.a. aber nicht nur Bomm. Beide schildern die Erlebnisse Wieczoreks aus ihrer Perspektive und was die Erlebnisse mit ihnen anstellen. Beiden gemeinsam ist das tiefe Staunen darüber, wie zielgenau Wieczorek Gebiete aufsuchen und Dinge finden kann. Er wird sogar von Vinz‘ Familie als einer der ihren akzeptiert, weil er Dinge weiß und wiederfindet, die nur Vinz und die Familie wissen können.

Was Wieczorek beschreibt, ist etwas, was auch im asiatisch-indischen Raum vorkommt: Kindheitserinnerungen aus einem vergangenen Leben, meist einem mit einem traumatischen Ende, d.h. einem traumatischen, gewaltsamen Tod in einem früheren Leben. Gerade im indischen Raum werden solche Erinnerungen der Kinder nicht gern gesehen, weil die Familien Angst haben, ihre Kinder an die frühere Familie zu verlieren. Man versucht solche Erinnerungen z.T. mit Gewalt auszutreiben. Lässt sich eine Familie allerdings auf die Spurensuche ein, erlebt sie den Seelenfrieden und nicht unbedingt den Verlust des Kindes, wenn die Sache aufgeklärt werden kann. Auch im westlichen Raum gibt es immer wieder Kinder, die sich an frühere Leben erinnern können, oft solche mit einem gewaltsamen Ende, das nach Aufklärung schreit. Psychiater Ian Stevenson ist diesem Phänomen wissenschaftlich nachgegangen und konnte Indizien dafür finden, dass solche früheren Leben tatsächlich stattgefunden haben. Sein Nachfolger Jim B. Tucker setzt Stevensons Arbeit fort. https://de.wikipedia.org/wiki/Ian_Stevenson Auch andere Autor*innen gehen diesem Phänomen nach, z.B. in den Büchern „Mama, ich war schon einmal erwachsen“ von Carol Bowman und „Erinnerungen an den Himmel“ von Dee Garnes und Wayne W. Dyer.

Das Buch liest sich neben dem professionellen Schreibstil schon allein deshalb spannend, weil die Autoren chronologisch vorgehen – durch die Spurensuche und die Puzzleteile der Träume ergibt sich die Spannung quasi von selbst. Man fiebert und leidet beim Lesen förmlich mit, weil gerade Wieczorek sein Innenleben sehr genau beschreibt, aber auch analysiert und seine Zweifel verdeutlicht. Dass die Erlebnisse im Präsenz formuliert sind, lässt die/den Leser*in fast in Echtzeit daran teilhaben. Schwarz-Weiß-Fotos der Fundstücke und anderen Orten und Personen, die Wieczorek wiedererkannt hat, sind ebenfalls im Buch vorhanden. Außerdem gehen die Autoren den Hinweisen aus Wieczoreks Träumen nach, indem sie Zeitzeugen und Kenner der Ortsgeschichte kontaktieren, in Büchern und im Internet recherchieren, um mehr Licht in die Angelegenheit zu bringen – auch, um sich historisch auf sicheren Boden zu begeben, denn Träume allein, seien sie noch so aufwühlend, sind keine historische Absicherung. Gerade für Wieczorek bedeutet es eine große Erleichterung, wenn er sich nicht für verrückt erklären muss, weil die Ortgeschichte tatsächlich seine Träume bestätigt.

Für Wieczorek ist es in jedem Fall aber eine psychische Be- und später nach Lösung des Falls Entlastung: Die Träume sind verstörend, aber die allmähliche Auflösung der Geschehnisse bewirkt bei ihm immer mehr Frieden in der Seele bis hin zu tiefem Frieden. Egal ob er oder andere an Reinkarnation glauben oder nicht: Die psychischen Vorgänge sind in jedem Fall real. Auch das wird im Buch en detail beschrieben, denn W. hält wie oben schon geschrieben mit seinen Erlebnissen und Gefühlszuständen nicht hinterm Berg.

Fazit

Ein gut recherchiertes Buch mit eigenen, detailliert geschilderten Erlebnissen zum paranormalen Thema der Reinkarnation. Das Thema selbst kommt aber in so ziemlich allen Religionen vor, auch in den Neben- und Urströmungen der monotheistischen, sodass eine nähre Beschäftigung damit lohnt, zumal es erstaunliche Parallelen zum Phänomen der Nahtoderfahrungen gibt.


Genre: Erfahrungsbericht, Paranormales, Reinkarnation
Illustrated by Weltbild