Jack London (1876-1916) hat sich vor allem in der älteren Generation einen Namen gemacht. Aber auch unter jüngeren Lesern ist er bekannt, da sein Werk regelmäßig neu übersetzt oder verfilmt wird. London ist der Abenteuerschriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts, dessen Romane stets eine psychologische wie philosophische Dimension beinhalten (zu denen insbesondere Marx, Darwin und Nietzsche ihn inspirierten). Leider verkannten ihn die deutschen Verlage, da ihn hierzulande ein ähnliches Schicksal ereilte wie beispielsweise Mark Twain, der zum Jugendbuchautor degradiert wurde.
Um Jack Londons Bücher als Jugendbücher zu vermarkten, wurden sie mitunter radikal gekürzt. Erstmalig liegt nun eine ungekürzte Neuübersetzung von Lutz-W. Wolff im Deutschen Taschenbuch-Verlag, die Londons 1906 erschienenen Roman Wolfsblut unverfälscht in seiner Originalität präsentiert, und sich noch dazu wie Gegenwartsliteratur liest.
Inhalt
Ein hungerndes Wolfsrudel, das völlig abgemagert und dem Tode nahe durch die dichten Nadelwälder Alaskas streift, immer auf der Suche nach Essbarem. Fleisch auf der Suche nach Fleisch. Mit diesem Szenario führt London den Leser in die raue, unwirtliche Wildnis Nordamerikas im Winter zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein.
Auch zwei Menschen und ihre Schlittenhunde sind zu der Jahreszeit in diesen Breiten unterwegs, denen das Rudel rasch auflauert. Nacht für Nacht nähert es sich dem Lager, die Gefahr, die vom Feuer ausgeht, zunehmend ignorierend, da ihr Hunger wächst und wächst. Darunter die Halbhündin Kische und der namenlose einäugige Rudelanführer.
Es ist ein rätselhafter und zu langatmiger Aufhänger in die Welt unseres tierischen Protagonisten, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal geboren ist. Erst als die rastlose Kische eine Höhle entdeckt, kann sie in aller Ruhe entbinden. Ursprünglich hat White Fang (Wolfsblut) Geschwister, die jedoch im Zuge einer Hungersnot versterben. Nur White Fang, der die wölfische Ader seines Vaters geerbt hat, hält sich wacker am Leben.
Erstaunlich ist, dass London selbst die Welt der Instinkte und Gefühle dieses noch blinden Neugeborenen schildert. White Fang entwächst seiner Geburtshöhle und beginnt, sich in der Welt umzusehen. Durch seine naiven Weltanschauungen schließt man den Wolfswelpen direkt in sein Herz und möchte ihn am liebsten vor der grausamen Welt in Schutz nehmen. Er sammelt Tag für Tag notwendige Erfahrungen auf dem gnadenlosen Weg zum erwachsenen und selbständigen Wolf, der in freier Wildnis fähig sein muss, zu überleben. Irgendwann begegnet er dem Menschentier, einer ausgesprochen merkwürdigen Kreatur, die aufrecht auf ihren Hinterläufen steht und eigenartige Laute von sich gibt.
Man würde zwar meinen, dass White Fang auch einen Instinkt besäße, der ihn von Feuer fernhält. Dass dies nicht so ist, beweist er, als er seine Nase in das vom Menschentier zum Leben erweckte züngelnde Leuchtwesen steckt. Zu diesen wahrhaft magischen Taten sind sie also auch fähig, diese götterartigen Wesen.
Indianer sind es, die ihn seiner ursprünglichen Heimat entreißen und ihn für ihre Zwecke missbrauchen. White Fang wird Teil eines Indianerstamms und zum Schlittenhund ausgebildet. In dieser ersten Zeit der Zivilisierung macht sich bereits eine Sehnsucht und Abhängigkeit geltend, eine rätselhafte Bindung, die sich zwischen ihm und seinem Herrn Gray Beaver entwickelt, obwohl dieser ihn ganz und gar lieblos behandelt, basierend auf Ehrfurcht und Pflichteifer einerseits und Schutz, Wärme und Nahrung andererseits.
Wo sich White Fang zunächst gegen die untergeordnete Rolle unter der Gewaltherrschaft des Menschen sträubt, ist irgendwann der Punkt erreicht, da er bereits zu stark in der Abhängigkeit des Menschen steht und der ihn in die Wildnis lockende Instinkt seiner Ahnen zum Erliegen kommt. Immer wieder muss sich White Fang gegen seine Rivalen behaupten, die ihn aufgrund seiner Abstammung fürchten und attackieren. Alles, was ihm in dieser frühen Lebensphase widerfährt, spiegelt sich in späteren Handlungen wider. Keine Information dient als Lückenfüller, sondern ist prägend für seinen Charakter und den späteren Verlauf der Erzählung. White Fang lebt ein Leben am Limit, vom Gesetz der Wildnis dazu geprügelt, das Gesetz der Menschen zu achten, die seine Treue oft schändlich missbrauchen, was London deutlich macht, indem White Fang eines Tages an einen unmenschlichen Herrn gelangt, der an seinem Wohl nicht im geringsten interessiert ist und ihn zum Kampfhund abrichtet: Für White Fang beginnt ein hasserfülltes Leben. Denn nur diese Emotion ist es, für die er am Leben ist und die er befriedigt sehen möchte. Im entscheidenden Moment, als White Fang bereits im Sterben liegt, rettet ein Mann namens Weedon Scott sein Leben, der fortan zu seinem Herrn wird. Scott füllt die sehnsüchtige Leere in White Fangs verdorbenem Herzen, denn er gibt ihm, was er vom Menschen bisweilen nicht erfahren durfte: Liebe. Unerschütterlich glaubt Weedon Scott an das Gute in diesem wilden Biest und tatsächlich gelingt es ihm, White Fang erneut zu zähmen, von seinen Gewaltfantasien zu befreien und ein städtisches Leben mit ihm als Hofhund in Kalifornien zu führen.
Interpretation
Londons Werk besitzt eine ausgeprägte literarische Tiefe, da er existenzielle Themen verarbeitet – allen voran der Kampf ums Dasein, den er unbeschönigt in aller Eindrücklichkeit beschreibt. London möchte uns keinen unterhaltsamen Hollywood-Blockbuster mit dem Tränengaranten Hund daherzaubern, sondern die bewegende, nüchtern und brutal verfasste Biographie eines Tieres präsentieren, die sich exakt so ereignen könnte.
Auch wenn White Fangs Rettung in letzter Sekunde nicht ganz kitschfrei ist und die Geschichte mit einem herzerwärmenden Happy End endet, steht der Realismus für Jack London an erster Stelle. Während des Lesens konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass London mit wissenschaftlichen Beschreibungen und Erläuterungen um sich wirft, die – gerade in damaliger Zeit – nicht gesichert waren.
Aber auch in heutiger Zeit wissen wir viel zu wenig über das Gedankenleben eines Tiers: Wann es bewusst denkt und wann ihm lediglich seine Instinkte den Weg weisen. Daher ist der Entschluss gewagt, einen Tierroman zu schreiben – und die Gefahr groß, als Jugendbuchautor abgestempelt zu werden. Nur dass ein Tier sehr wohl Gefühle empfinden kann und für Schmerz und Glück empfänglich ist, ist angesichts der zunehmenden Sensibilisierung im Umgang mit dem Tier offenkundig. Auch wenn die Idee, dem Tier eine Stimme zu verleihen, nicht revolutionär war, da der Naturforscher Ernest Thompson Seton bereits ein paar Jahre zuvor seine Tiergeschichten rund um Wolf, Bär und Vogel publizierte, hat Jack Londons weitaus bedeutenderes Werk, indem er Tieren ein entwickeltes Bewusstsein zuschrieb und zu Mitgefühl anregte, sicher auch zur Umdenkung in Bezug auf das Tier beigetragen und der damaligen Bevölkerung einen ungewohnten Perspektivwechsel geliefert, der einigen seiner Zeitgenossen gehörig auf den Leim ging. Dass der Hund vom Wolf abstamme und sich beide im Laufe der Zeit auseinanderentwickelten, war zu Londons Zeit ebenso spekulativ. Erst vor wenigen Jahren kam die endgültige Bestätigung.
Trotz Spekulation gelingt es London grandios, sich in das Bewusstsein des Wolfs hineinzuversetzen und dem Leser plausibel und authentisch seine Empfindungen, Gefühlsregungen und womöglich sogar Gedankengänge weiszumachen, in klarer, verständlicher Sprache, die nie in Ausschweifungen abdriftet, sondern das Wesentliche im Blick behält. Wolff findet ein sprachliches Mittelmaß zwischen modern und zeitgenössisch, das überzeugt.
Intensiv und folgenreich beschreibt London das fatale Verhältnis von Mensch und Wolf, das London kritisch sieht, da der Wolf wider seine Natur in verhängnisvolle Abhängigkeit gerät, aber nicht ausschließlich. Denn nichts ist größer als die innige Freundschaft und Treue zwischen einem Wolf oder Hund und einem Menschen, der seine Liebe erwidert. Zahlreiche Weisheiten stecken in dieser Erzählung: Das Leben vergleicht London mit einem Klumpen Lehm, der sich im Rahmen seiner genetischen Möglichkeiten seinen Umständen anpasst, wobei jeder Umstand unmittelbare Auswirkung auf die Form hat. Nach einer intensiven Phase der Charakterfindung hat sich der Lehm soweit verfestigt, dass er nur mit Mühe erneut verformt werden kann: Was allerdings kein Grund ist, aufzugeben, denn für das Gute einzutreten und darum zu kämpfen, ist immer lohnenswert! Besonders dann, wenn man siegreich ist.
Resümee
White Fangs Schicksal, das von allen nur denkbaren Höhen und Tiefen der Existenz gekennzeichnet ist, aber zu einem guten Ende findet, zieht den Leser von seiner Geburt an in Bann, weshalb es nicht wundert, dass Wolfsblut auch heute noch viel und gern gelesen wird und längst zum Kanon literarischer Klassiker zählt.
Bewertung: Meisterhaft
Mein Video-Buchblog: www.youtube.com/channel/UC4HroFmpRpH7t2BiZA-X68w
Also ist die Neuübersetzung der alten in jedem Fall vorzuziehen?