Psychogramm einer Egomanin
Bekannt geworden ist Peter Schneider als Chronist des revolutionären Umbruchs von 1968, der mit seiner Erzählung «Lenz» 1973 ein zum Kultbuch gewordenes Zeugnis von dessen Scheitern geschrieben hat. Zeit seines Lebens hatte dieser Schriftsteller Briefe seiner Mutter aufbewahrt, ein Schatz, den er nun gehoben hat und der Anlass war für sein 2013 erschienenes Buch «Die Lieben meiner Mutter». Die im Klappentext werbewirksam verheißene Pikanterie einer Ménage-à-trois weist allerdings in die falsche Richtung. Gegenstand dieser Erzählung ist vielmehr die tragische Liebessehnsucht einer leidgeprüften jungen Frau mit vier Kindern in den Wirren des Kriegsendes und der frühen Nachkriegszeit, die in einem zweiten Handlungsstrang das Erinnern des Autors an seine Kindheit bis zum frühen Tod der Mutter im Jahre 1950 thematisiert.
Die in Sütterlin geschriebenen Briefe konnte Schneider selbst kaum entziffern, erst zusammen mit einer schriftkundigen Freundin hat er die Bedeutung und Tragweite dieses Konvoluts erkannt und die Texte mit ihrer Hilfe schließlich in Lateinschrift transkribiert. Völlig unerwartet stößt er dabei auf eine Dreiecksgeschichte, die Mutter hatte offen ausgelebte Beziehungen zu anderen Männern, wobei das Verhältnis zu Andreas, einem egozentrischen Opernregisseur und Freund ihres Mannes, am längsten andauerte, sie seelisch dann auch am tiefsten verletzt hat. Heinrich, ihr meist in der Ferne weilender Ehemann, ein erfolgreicher Komponist und Dirigent, ist offensichtlich eingeweiht, lebt aber ganz in den höheren Sphären seiner Musik, von Eifersucht ist nicht mal ansatzweise etwas zu entnehmen aus den wiederentdeckten Briefwechseln. In der Sammlung von Schriftstücken sind außer Briefen des Vaters auch solche der Liebhaber enthalten. Wobei die Briefe der Mutter oft wohl nur Entwürfe waren, wo Briefumschläge fehlen, die vermutlich also nie abgeschickt wurden, tagebuchartig gleichwohl ihre Sehnsüchte und Alltagsprobleme offenbaren.
Auf der packend geschilderten Flucht vor der Roten Armee ist die Mutter mit ihren vier Kindern nach unsäglichen Mühen schließlich in bayerischen Grainau gelandet. Sie ist auf sich allein gestellt in den Nöten der Nachkriegszeit, schlägt sich mit Näharbeiten durch. Der Autor schildert in dieser Erzählebene seine Kindheitserlebnisse, wobei ihm die Briefe so manches in die Erinnerung zurückrufen, was er längst vergessen hat nach mehr als sechs Jahrzehnten. Mit den Zitaten aus den Briefen zeichnet er ein Psychogramm seiner Mutter, deren Sehnsucht nach Liebe sich nicht erfüllte, deren Liebesschwüre die Liebhaber eher verschreckt haben. Sie verzweifelt an der Lieblosigkeit der Männer, ihre Gefühle prallen ab an einer undurchdringlichen Hülle, die sie umgibt, die nur beim Tête-à-tête nicht vorhanden zu sein scheint.
Nüchtern im Stil beschreibt der Autor seine Entdeckung einer Unbekannten, die zwar seine Mutter war, beileibe aber keine Heldin, deren ebenso unkonventionelles wie rücksichtsloses Liebesleben, soweit es aus den Briefen zu entnehmen ist, ihn deutlich merkbar irritiert. Er arbeitet bei seinen Zitaten jeweils mit kurzen Auszügen, oft nur mit einzelnen Sätzen, die stilistisch manieriert, nicht selten auch kitschig erscheinen im Vergleich zu seiner eigenen, ungekünstelten Sprache. Beklemmend für mich war die Unbedingtheit, mit der die Mutter als egoistische Geliebte, für die ihre Kinder in diesen Phasen nur noch ein Klotz am Bein sind, dem vermeintlichen Glück hinterher jagt. Den Horizont erweiternd sind die Schilderungen der prekären Lebensumstände damals, nicht gelungen jedoch ist die Verschmelzung der beiden Themenkomplexe, Liebeswirren der Mutter und Kindheit des Sohnes, in einen homogenen Erzählfluss. Gleichwohl ist all das mit Gewinn zu lesen, und wie der Sohn die für ihn vermutlich ziemlich peinlichen Erkenntnisse aus dem emotional aufgeputschten Liebesleben seiner Mutter verarbeitet hat, aus männlicher Perspektive auch noch, das ist durchaus bewundernswert.
Fazit: lesenswert
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