Der Leser ist gut beraten, den Unterschied zwischen Krokodil und Alligator zu kennen, wenn er sich denn mit dem Hauptdarsteller der Erzählung von Francis Mohr anfreunden möchte. Denn der ist ein stolzer Alligator aus Amerika und kein ordinäres Krokodil, dessen grässliche vier unteren Zähne aus dem geschlossenen Maul herausragen. Außerdem werden Alligatoren älter, während Krokodile spätestens mit 70 mit aufgeblähten Bäuchen an der Wasseroberfläche treiben.
Anno 1936 hatte ein alter Mann des jungen Alligators Gier mit einem leckeren Köder herausgefordert und ihn damit aus einem Sumpf im Mississippi gefischt. Das Reptil wurde dann als Geschenk des als unschlagbar geltenden amerikanischen Boxer Joe Louis an den deutschen Schwergewichtler Max Schmeling überreicht. Der hatte den wegen seiner Hautfarbe »braunen Bomber« genannten Louis in New York am 19. Juni 1936 völlig überraschend k.-o. geschlagen.
Schmeling wiederum überreichte die lebende Trophäe Hitler und bat ihn, dem Tier einen Namen zu geben. Der Fascho-Kanzler taufte ihn »Saturn«, übernahm die Patenschaft und schickte ihn in die Krokodilhalle im Zoologischen Garten Berlin. Dort hatte Saturn sein Auskommen und ließ sich bewundern. Gern posierten die Nazibosse mit dem gefährlichen Tier und hielten sich in seiner Nähe auf. So wird auch sein Betreuer, der Reptilienpfleger Heinrich, von Goldfasanen wie Göring angesprochen, wenn die ein Foto für die Presse brauchten.
Doch das »Tausendjährige Reich« hielt nicht lange, bald lag Berlin in Schutt und Asche. Auch Charlottenburg und der Zoo verbrannten im Bombenhagel, die meisten Tiere kamen um. Lediglich neunzig von ihnen überlebten die Angriffe und wurden wieder eingesammelt. Saturn schaffte es, in die Kanalisation zu entwischen und dort zu überleben.
Nach der Befreiung wurde er von britischen Soldaten entdeckt und als Geschenk an Offiziere der Roten Armee übergeben. Die wiederum brachten ihn, und sein ehemaliger Pfleger durfte ihn dabei begleiten, in den Moskauer Zoo, wo er schnell zur Berühmtheit wurde. »Hitlers Alligator« nannten ihn die Leute und bestaunten das 3,50 lange Tier mit den spitzen Zähnen. 2020 hauchte der inzwischen 84-jährige Saturn sein Leben aus und löste einen letzten großen Presserummel aus.
Autor Francis Mohr erzählt die Geschichte des Alligators mit Leichtigkeit und versteht es, an der Legende um Herkunft und Werdegang des Reptils vielschichtig zu weben. Stets ist er dabei bemüht, auch die jeweiligen politischen Machtverhältnisse zu beleuchten. Ob dabei dann allerdings die Erläuterung einer Mutter, die ihrer Tochter den Charakter eines Krokodils mit dem Vergleich »Nur der Jude ist noch verlogener und durchtriebener« nahebringen will, etwas über die Kultur des Dritten Reiches aussagt, darf bezweifelt werden.
Von diesem Fauxpas abgesehen eine vergnügliche Erzählung zwischen Tatsachenbericht und Legendenbildung.