Der Roman des in Nanking lebenden Autors spielt im farbenprächtigen Milieu der chinesischen Oper. Die Diva Xiao Yanqui, eine lebende Verkörperung der Protagonistin der Peking-Oper »Chang´es Flug zum Mond«, verhilft der Inszenierung durch ihre Kunst zum Erfolg, während umgekehrt die Oper ihr den Durchbruch bringt. Doch die ruhmsüchtige Sängerin muss bald ihre verheißungsvolle Karriere abbrechen, weil sie in einem unbeherrschten Moment ihrer älteren und erfahrenen Zweitbesetzung, die für sie zurücktrat und sie sogar anleitete, kochendes Wasser ins Gesicht schüttet.
Zwanzig Jahre später finanziert ein zu Geld gekommener Fan der Sängerin die Wiederaufnahme des Stückes. Xiao Yanqui sieht die Erfüllung all ihrer Träume gekommen und stürzt sich mit Hingabe in die Proben. Wieder erwächst ihr eine Rivalin, diesmal jedoch befindet sie sich in der Rolle der Älteren, die jüngere ist ihre Schülerin, die für sie wie eine Tochter war. Hat Yanqui aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, und kann sie diesmal ihr Temperament zügeln?
Bald verschwimmen die Grenzen zwischen der Person der Sängerin und der von ihr interpretierten Figur. Immer stärker verpuppt sich der Altstar in die Rolle und lebt nur für diese, während das Privatleben als Ballast empfunden wird. »Die Winterblume, kaum erblüht, wird schon von Reif und Schnee zerpflückt. Noch einmal blüht sie auf und wird von Hagelschlag und Eis zerstückt«, heißt es im Text der Oper, der damit das innere Thema des Buches abbildet.
Im Stück stiehlt Chang´e dem Helden Huoyi eine Pille der Unsterblichkeit, die er als Lohn für die Rettung der Erde erhalten hat, und schluckt sie selbst. Aus Furcht vor Houyis Zorn steigt sie in die Lüfte auf und versteckt sich auf dem Mond. Dort führt sie als Mondgöttin ein einsames Leben und schaut voll Gram und Reue auf die Erde. Der Mensch ist sich selbst Feind, er sehnt sich danach, sein Menschsein abzustreifen und ein göttliches Wesen zu werden. Die falsche Pille zu schlucken ist Chang´es Los, das Los der Frauen und des mit seiner Bestimmung unzufriedenen Menschen überhaupt.
Bi Feiyu schuf mit seinem kunstvoll gebauten Kurzroman um das Schicksal einer chinesischen Diva eine Oper in der Oper. Der Text ist intensiv, er ist intim, er berührt Fragen der Identifikation mit einer Rolle und des Loslassenkönnens ebenso wie solche des künstlerischen Selbstverständnisses. Ein ungewöhnlich vielschichtiges Buch!