Zwar steht der entscheidende Brief aus England noch aus, doch die Vorbereitungen für die Fantasie sind in vollem Gange. Der Unternehmer Höller hat den idealen Ort für die Aufführung von Franz Schuberts „Wandererfantasien“ gefunden: Das kleine Örtchen Castelnuovo in der Toskana bietet die besten Rahmenbedingungen für das anspruchsvolle Werk des eigenwilligen Komponisten. Es kommt nur selten zur Aufführung und soll nun von dem herausragenden Pianisten Alfred Brendel interpretiert werden. Höller ist todkrank, doch die ihm verbleibende Zeit nutzt er mit Konsequenz. Die Straße lässt er frisch asphaltieren, sein Anzug hängt maßgeschneidert bereit, die künftigen Saaldiener aus dem Altenheim werden sorgsamst geschult, und der Neubau des Gemeindesaales ist nur noch eine Frage der Zeit. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Auch an die Überführung des sensiblen Bösendorfer Konzertflügels aus Wien ist gedacht. Die Finanzierung ist kein Problem, denn Höller verkauft seine Firma gerade an die Russen. Zwar sind alle aus der Familie dagegen – seine Frau, eine Wiener Staranwältin, sein Sohn, ein geldgieriger Karrieremensch, und seine Tochter, eine weltfremde Möchtegernkünstlerin -, doch Höller verfolgt sein Ziel unbeirrt: Alfred Brendel wird aus England nach Castelnuovo kommen und die Fantasie spielen!
Der Druck in Brendels Kopf nimmt zu, die Aussicht auf das grandiose Konzert aber beflügelt den Todkranken. Alles andere wird unwichtig angesichts der Fantasie. Schmerzen und Schwäche, Vorurteile und Vorschriften, falsche Anschuldigungen und andere Hindernisse gilt es zu überwinden, rasch und effizient. Medikamente, Überzeugungskraft und Geld machen fast alles möglich. Rückschläge fordern den Musikbesessenen erst recht heraus. Nichts wird der Fantasie mehr im Wege stehen. Der Brief aus England muss jeden Moment eintreffen …
Günther Freitag erzählt die Geschichte eines Idealisten, der im Angesicht des Todes allen Konventionen trotzt, um seinen Traum zu verwirklichen. Der lakonische Schreibstil macht die bedingungslose Entschlossenheit und glühende Begeisterung Höllers besonders anschaulich. Die Schilderung der örtlichen Gegebenheiten, die Vorstellung der verblüfften Einheimischen bilden den originellen Rahmen einer großen Leidenschaft zur Musik. Faszinierend und mitreißend beleuchtet Freitag Menschenelend und Alltagsglück. Das Gleichnis vom Tod als Luxusgut untermalt dieses fantastisch zuversichtliche Endzeitszenario.