Ganzheitliches, soziales, naturverbundenes Denken
Theologe Lothar Beck untersucht im vorliegenden Buch Symbole des Matriarchats, die Mythologie und die Überfrachtung des Matriarchats durch das Patriarchat und durch das Christentum kirchlicher Ausprägung. Er beruft sich dabei auf schon vorhandene Literatur, z.B. auf die Basiswerke von Marija Gambutas und Heide Göttner-Abendroth. Er beschreibt im Prinzip, was die Autoren von “Die Wahrheit über Eva” als die “Religion von unten” bezeichnen.
Außerdem benutzt er durchgehend die weibliche Sprachform: “So möchte ich die Selbstverständlichkeit der männlichen Prägung unserer Sprache bewusst machen.” Für mich als weibliche Leserin hat sich das als sehr erholsam und heilsam erwiesen: Ich als Frau werde endlich sichtbar! Ich habe schon vorher eine gendergerechte Sprache befürwortet, jetzt bin ich erst recht dafür, dass diese forciert wird: Sprache ist Ausdruck von Wirklichkeit, Sprache schafft aber auch Wirklichkeit. Beides kommt im Patriarchat zum Tragen, wenn die männliche Sprachform vordergründig für alle gilt, aber trotzdem hintergründig mindestens ein Geschlecht ausschließt und unsichbar macht. Wenn eine gendergerechte Sprache eingeführt wird, mag das vordergründig zwar etwas mühsamer zu lesen und zu schreiben sein, aber sie holt ans Licht, was schon lange da, aber (gewollt) unsichtbar war. Damit kommt Frauen und anderen Geschlechtern mehr Sichtbarkeit und damit mehr Präsenz und Wertschätzung zu. Diese wirkt sich (das ist meine tiefste Überzeugung), konsequent angewandt, auch auf andere Bereiche des Lebens aus.
Theologe Lothar Beck kommt, kurz zusammengefasst, zu folgenden Erkenntnissen:
- Die symbolische Vaterordnung ist auf allen Ebenen eng mit männlichem Domminanzverhalten und männlicher Gewalt verknüpft. “Die Symbolordnung zwingt das andere Geschlecht zu einer stärkeren Anpassung an die jeweilige Sichtweise und ihren Wertekanon.”
- arche, griechisch = Ursprung, Herrschaft => matri-arche = mütterliche Ursprungsbezogenheit allen Lebens; patri-arche = väterlich-männliche Vorherrschaft
- männliche Gewalt zielt in 3 Richtungen: gegen männliche Konkurrenten, gegen Frauen und Mütter, gegen Mutter Natur
- Politik der Gleichberechtigung: Frauen werden verstärkt dazu eingeladen, sich an patriarchalen kapitalistischen bzw. sozialistischen Unterdrückungs- und Ausbeutersystemen aktiv zu beteiligen
- Die Umwandlung vom matriarchalen zum patriarchalen System erfolgte nicht von innen, sondern von außen durch frühpatriarchale Eroberer, dann auch immer hierarchisch von oben nach unten gegen massiven jahrtausendelangen Widerstand (vgl. auch das Buch “Die Wahrheit über Eva”).
- Matriarchale Religiosität erklärt sich von selbst und bindet Natur und Alltag sinnstiftend ein (s. “Wahrheit über Eva”: Religion von unten), während patriarchale Religion von oben kommt: “Eine abstrakte theologische Idee wird sekundär mit natürlichen Abläufen verknüpft, um ihren künstlich-theoretischen Sinngehalt glaubwürdiger und verständlicher zu machen.” Sie dienen dabei ausschließlich männlicher Machtinteressen. (s. “Wahrheit über Eva” Religion von oben bzw. Herrschaftsreligion) => derzeitige Weltreligionen wie monotheistische Religionen, Buddhismus… sind zutiefst patriarchal
- Frauen gelten in Vaterreligionen als zweitrangige Menschen, werden von Priesterämtern ausgeschlossen, gelten zur Zeit der Menstruation und Geburt als unrein (bei der Geburt von Mädchen doppelt so lange wie bei der Geburt von Jungen); Sexualität gilt als Sünde, wobei die Frau angeblich den Mann zur Sünde verführt; der gesamte Bereich der Monatsblutung, der Frauwerdung, des Frauseins nach der Menopause wird bis heute negativ erlebt und tabuisiert (s. das Jugendbuch “Alles ganz normal”) und seine große Würde und Bedeutung wurde und wird ihm genommen
- “Frauen werden im Grunde bis heute als Menschen zweiter Klasse behandelt. Sie werden unterbezahlt und stehen noch immer ziemlich alleine da: im unlösbaren Konflikt zwischen Kindererziehung und Karriere. Dies bedeutet, dass sich jede Frau in der vaterländischen Volkswirtschaft selbst ihren Weg zwischen Kindern und Beruf suchen muss, also zwischen einer randständigen weiblichen und einer außenwirksamen männlichen Lebensgestaltung. Obwohl sie statistisch gesehen dabei sind, die Männer sowohl in kommunikativ-emotionaler als auch in mathematisch-technischer Intelligenz zu überholen, werden sie belächelt und weniger ernst genommen, wenn sie in der Ehe oder in einem Team von Männern ihre Werte und ihre weibliche Art, an eine Sache heranzugehen, zu äußern oder zu begründen versuchen.”
- Die “weibliche Art” beschreibt Beck als ganzheitliche Herangehensweise, die z.B. in einem Konfliktfall nicht auf eine schnelle, dominante Lösung aus ist, sondern auf eine langfristige, ganzheitliche und alle Parteien aus sich heraus befriedende Lösung. Der Lösungsprozess ist dabei oft schmerzlich, aber heilsam.
- Das geht einher mit dem weiblichen Symbol des Knotens und des Lösens desselben: Früher war es die Aufgabe des Mannes als Eignungstest für Führungsaufgaben, den Knoten geduldig zu lösen und dabei zu wertvollen Erkenntnissen zu gelangen, während die patiarchal-gewaltsame Lösung eines Alexanders des Großen so aussieht, dass er den gordischen Knoten einfach durchschlägt – das Gegenteil einer ganzheitlichen Lösung.
- “Die symbolische Ordnung der Mutter und die Hochachtung der Mutter Natur könnten einen existentiellen Rahmen für eine Kurskorrektur und eine lebensbewahrende, nachhaltige Entwicklung darstellen […]”
- “Der Sinn von Intelligenz ist vornehmlich ein sozialer […] Ungebundenes Mannsein steht in Gefahr, die Ehrfurcht vor dem Leben zu verlieren.”
- Im alten Europa, aber auch weltweit verkörperte das Weibliche das Ursprüngliche. Alles Weibliche war schöpferisch: Jedes Tier entsteht aus dem Eierstock, jede Pflanze aus dem Fruchtknoten. Das Weibliche war deshalb das Abbild des Göttlichen und ihm wurde eine besondere schöpferische Kraft zugeschrieben. In jedem Muttertier, in jeder samentragenden Pflanze, in jedem fruchttragenden Baum zeigt sich die Göttin als schöpferisch Gebärende, als Große Mutter. Der Todesaspekt war in die ganzheitliche Muttersymbolik integriert. Die Göttin trat deshalb auch meist in der Dreiheit auf: als Mädchen (Farbe weiß), als Menstruierende/Mutter (Farbe Rot), als Frau in der Menopause (Farbe Schwarz). Diese Dreiheit der weiblichen Gottheit hat das kirchliche Christentum übernommen und versucht, sie auf das Männliche umzudeuten, wobei der weibliche Aspekt zurückgedrängt und bekämpft worden ist. Die Dreiheit des Weiblichen (Göttinnen bzw. Aspekte der Großen Göttin erscheinen gern in Dreierformation, aber auch Feen) gilt auch für die Mondphasen (mit dem Mond ist die Frau besonders eng verbunden, weil der Mond wie die Periode zyklisch ist und Frauen oft im Mondzyklus menstruieren), den Lebenszykkus und den Jahreszyklus. Die zyklische Frau ist mit dem Zyklus der Natur verbunden und lebt mit, nicht gegen die Natur. (In diesen Zusammenhang fällt auch die Wiedergeburt, an die die meisten Religionen glauben. Die Hauptströmungen des Monotheismus haben den Wiedergeburtsglauben verbannt und verfolgt. Er ist aber in den mystischen und den Nebenströmungen des Monotheismus immer noch vorhanden. Die Göttin birgt die Seelen der Verstorbenen in ihrem Bauch (s. Höhlengräber und runde Gräbererhebungen), bis sie wiedergeboren werden (s. z.B. Frau Holle im Buch “Unsere heimischen Göttinnen neu entdecken” von der Archäologin Joanne Foucher).)
- Die Religion von unten erklärt sich (wie oben angedeutet) von selbst: Runde Formen in der Natur wurden dem Weiblichen zugeschrieben (Schwangerschaftsbauch, Brüste), Fels- und sonstige Spalten der Vagina (die besondere schöpferische Kraft besaß und deshalb verehrt wurde). Wasser wurde ebenfalls mit dem Weiblichen und Göttlichen in Verbindung gebracht (Fruchtwasser, Wasser, das aus Felsspalten dringt, Flüsse => Flüsse schlängeln sich: Schlangen und Drachen => im Christentum verteufelt und bekämpft, s. z.B. Garten Eden und Georg und der Drache). Die erblühende Natur im Frühling wurde u.a. der Göttin Ostara (Ostern) zugeschrieben. Eier (s. Weltenei), meist rot gefärbt (Menstruationsblut), Hennen, Kaninchen/Hasen (weil sichtbar fruchtbar), Lämmer gelten bis heute als Symbole für Ostern! Wo solche Göttinnensymbole nicht verbannt werden konnten, wurden sie entweder christianisiert oder dämonisiert bzw. als Aberglaube abgewertet. (s. auch “Unsere heimischen Göttinnen neu entdecken”)
- Als Abbild der Göttin trug die Frau die Bezeichnung “geweihter Mensch” (Wei(h)b) bzw. englisch “wo-man”. Die ältesten Figuren, die man gefunden hat, sind Frauenfigurinen. Die Frau ist die Schöpferin (s.o.), der Mann das Geschöpf. In diesen Zusammenhang fällt auch die weltweite Mythologie des Sohn-Geliebten. Die Göttin gebiert alle(s) und damit auch den männlichen Gott. Als Geschöpf stirbt der Gott, von der Göttin beweint, entweder in der Trockenphase heißer Länder oder im Herbst und feiert im Frühling Wiederauferstehung. Mit der Göttin vermählt er sich, um Fruchtbarkeit zu garantieren. Er ist als Gott und als Mann in das Geschöpfliche, geboren aus der Göttin, eingebunden. Als solcher ist er guter Hirte (s. Christentum) und vorausschauender, ganzheitlicher Gärtner. Das Patriarchat hat diese weibliche Schöpferkraft schrittweise zurückgedrängt und dem männlichen Gott zugeschrieben, wobei diese Zuschreibung künstlich konstruiert wird, sich aber nicht aus natürlichen Begebenheiten erklärt. Die Götter Odin und Thor z.B. waren ursprünglich ebenfalls gute Hirten und Gärtner, bevor der destruktive Herschafts- und Gewaltanteil überwog und verherrlicht wurde. Jesus ist auch im Christentum der gute Hirte und war ursprünglich der Religion von unten zugetan (s. auch “Die Wahrheit über Eva”) und hat sie verkörpert (was Beck mit verschiedenen Bibelpassagen belegt).
- Göttinnensymbole sind der oben schon beschriebene Knoten als Symbol der Weisheit und Wandlungskraft. Die Kröte verkörpert die gebärende Stellung der Göttin/Frau und damit die Geburtskraft. Weitere Göttinnensymbole sind neben dem Ei und der Vulva das Schamdreieck als Symbole des Entstehens und des Ursprungs. Das kosmische Kreuz (!) und das Rad sind Symbole der kreisenden (zyklischen) Bewegung. Das Rautennetz verkörpert den Zusammenhang und die die Koevolution. Mondsichel, Horn und Raupe stehen für das Werden und den Übergang. Biene (die Göttin wird gern als Biene dargestellt) und Schmetterling verkörpern die Transformation und die Wandlungskraft. Bärin und Hirschkuh sind Sinnbilder der Mütterlichkeit. Hügel, Quellen, Höhlen und Bäume sind Grundelemente des heiligen Ortes.
- “In der Ehtnologie ist die große Friedfertigkeit matriarchaler Gesellschaften allgemein belegt.” Sie stärkt das Ich-Bewusstsein im egalitär-akzeptierenden Sinn und erweitert es auf die Gemeinschaft. Wenn eine Mutter Unterstützung bei der Kindererziehung von ihrer Mutter erhält, leben die Enkel länger. Unter dem Vorsitz der Sippenmutter wird Konsenz angestrebt. “Es herrscht niemand. Was zählt, ist die Klugheit, die Kompetenz und die Erfahrung des einzelnen.” Freiwillige Akzeptanz, Prinzip des Ausgleichs, des freiwillig angenommenen Ratschlags und Stammesbündnisse von Gleichen sind weitere Merkmale eines Matriarchats. Der Herd gilt als heiliger Ort für die Ahn*innenverehrung. Feste bestreiten und Hilfsbereitschaft bringen hohe Anerkennung. Die Anhäufung von Gütern stellen keinen Wert dar (s. auch “Wahrheit über Eva”). Nachhaltiges Umgehen mit natürlichen Ressourcen, Geburtenregelung allein durch die Frau, umfassende Solidarität, heiliges Gastrecht, hoher Wert der selbstbestimmten Sexualität, freie Liebesbeziehungen, innige Beziehung und Fürsorglichkeit der Muttersippe sind weitere Merkmale.
- Zusammengefasst gesagt: Vom Matriarchat in seinen verschiedenen Ausprägungen kann man viel lernen für einen gesunden, heilsamen und konstruktiven Umgang mit der Welt und miteinander.
Sinnstiftung und wohlwollender Umgang miteinander, nicht gegeneinander
In der Zuammenfassung oben konnte ich nicht alle Aspekte beleuchten, dafür ist die Lektüre dieses Buches da. Lothar Beck gibt wie auch Joanne Foucher und die Autoren von “Die Wehrheit über Eva” wichtige Erkenntnisse und Impulse für ein sinnstiftendes, ganzheitliches, nachhaltiges, soziales Leben mit und nicht gegeneinander, mit und nicht gegen die Natur. Er verbindet in seinem Buch die Göttinnensymbolik und Erkennntnisse aus dem Matriarchat mit dem kirchlichen Christentum und zeigt auf, wo die alte Religion vom Christentum überformt und defamiert wurde. In seinen Exkursen stellt er weitere Verbindungen her und gibt tiefere Einblicke in eine Welt, die aus ihrem System heraus um so vieles besser ist als die jetzige. Er zeigt sehr deutlich auf, wie tiefst patriarchalisiert wir heutzutage sind, stellt die einzelnen Phasen des Patriarchats dar (Früh-, Hoch- und Spätpatriarchat) und zeigt auf, wo sie heute noch zu finden und wie weit wir in ihnen verstrickt sind. Er gibt aufgrund der Erkenntnisse über das Matriarchat Tipps für ein in allen Belangen gesünderes, ganzheitliches und befreiteres Leben – für Frauen und Männer! Er zeigt also auch auf, wo Männer sich in einem solchen ganzheitlichen System verorten können und welche Vorteile es nicht nur für die Frau, sondern auch für den Mann hat.