Ecce homo
Als einflussreichster Autor der Aufklärung gehört Voltaire mit seinem riesigen Œuvre in allen drei literarischen Disziplinen der Epik, Lyrik und Dramatik zu den meistgelesenen französischen Schriftstellern eines Jahrhunderts, das man nach ihm als «Siècle de Voltaire» bezeichnet hat. Er war ein streitbarer Philosoph, dessen Werke sich an die Oberschicht und das Bildungsbürgertum in ganz Europa richteten, in deren Kreisen die französische Sprache zu beherrschen geradezu selbstverständlich war. Seine Kritik, mit der er ein führender Wegbereiter der Französischen Revolution wurde, galt den offensichtlichen Missständen des Feudalismus ebenso wie dem dünkelhaften Anspruch des katholischen Klerus auf Besitz der absoluten Wahrheit. Dabei hat er es wie kein Zweiter verstanden, sich seiner zeitgenössischen Leserschaft durch klare Gedankengänge verständlich und durch köstlichen Witz und beißende Ironie gewogen zu machen. Voltaire wurde 83 Jahre alt, verweigerte aber auf dem Sterbebett die Letzte Ölung, ein Unsinn, der ihn anwidere: «Es erscheint mir höchst lächerlich, sich ölen zu lassen, ehe man in die andere Welt eingeht. Es ist so, wie wenn man die Achsen seines Wagens vor einer Reise schmieren lässt.»
Es gibt kaum einen Bereich des Lebens, den Voltaire unkommentiert lässt in dieser von Laurenz Wiedner liebevoll zusammengestellten und herausgegebenen, dem riesigen Gesamtwerk mit über 700 Texten entnommen Sammlung. Auf 166 Seiten finden sich hier alphabetisch nach Stichworten sortiert nicht nur «Aphorismen und Gedankenblitze», sondern auch Zitate aus seinen Werken, allen voran aus seiner Roman-Parodie «Candide», eine philosophische Erzählung, in der er die Genres Abenteuerroman, Reiseroman und Liebesroman in satirischer Weise auf die Schippe nimmt. Oft parodiert er aber auch ziemlich sarkastisch seine persönlichen Gegner oder macht sich recht ungeniert über andere Schriftsteller und Philosophen lustig. So sagte er zum Dichter Jean Baptiste Rousseau, der ihm seine «Ode an die Nachwelt» vorgelesen hatte: «Es ist fraglich, ob dieses Werk an seine Adresse gelangen wird».
Seine oft beißende Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Missständen ist nie belehrend, ihre Wirkung entsteht durch die von ihm offengelegten inneren Widersprüche aus sich selbst heraus. Deutlich erkennbar gilt sein Respekt den großen Denkern der Antike, außerdem aber auch so manchem schreibenden Zeitgenossen und anderen Geistesgrößen der Aufklärung, allerdings ohne dass er deren eventuelle Irrwege und Widersprüche unkommentiert lässt. Besonders François de La Rochefoucauld mit seiner These von der alles bestimmenden Eigenliebe nötigt ihm höchsten Respekt ab. Gleiches gilt für Michel de Montaigne, der uns durch die unbefangene Betrachtung seines Ichs ein stimmiges Bild des Menschenwesens geschenkt habe, wie Voltaire schreibt.
«Der Mensch ist zu allem fähig. Nero weinte, als er das Todesurteil eines Verbrechers unterschrieb, er spielte Komödie und ermordete seine Mutter» heißt es unter der von Nietzsche der Bibel entnommenen Überschrift «Ecce homo», – das ist der Mensch! Die Prägnanz von Voltaires Prosa ist besonders verblüffend in seinen kurzen Definitionen: «Geld ist der Gott, dem die Christen, Juden und alle anderen Menschen gleich eifrig dienen». Oder: «Freundschaft ist die Ehe der Seele». Und ein schönes Bild ist auch dies: «Das Leben ist ein Schiffbruch, rette sich wer kann!» Auf den Leser dieser Sammlung warten viele ebenso vergnügte wie nachdenklich machende Begegnungen mit den oft verblüffenden Gedankengängen eines der größten Denker des 18ten Jahrhunderts, dessen klugen Reflexionen nachzuspüren viel Freude bereitet, auch wenn uns manches davon heute überholt zu sein scheint.
Fazit: lesenswert
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