Runaway

Clausgünter Rader, genannt Petty, hat die Nase voll von seinem tyrannischen Alten, der gegen lange Haare und Beatmusik hetzt und seinen Sohn autoritär erziehen will. Der Sechzehnjährige beschließt, von daheim wegzulaufen. Und weil das zu zweit leichter zu sein scheint, überredet er seinen Freund Riemschneider, mit ihm einen Zug nach Hamburg zu besteigen und dort ein neues Leben zu beginnen.

Dass die beiden Gymnasiasten aus München mit ihrem Plan, dem Elternhaus den Rücken zu kehren, letztlich scheitern und nur kurz ihre vermeintliche Freiheit genießen können, wird dem Leser gleich in der ersten Zeile des autobiographisch gefärbten Romans verdeutlicht. Durch eingesprengte Fragen nach dem Sinn und Zweck der Aktion, nach einer Erklärung für das aus elterlicher Sicht völlig unverständliche Verhalten der jungen Leute wird eine Verhörsituation eingeblendet, der sich der Runaway nach seiner Rückkehr stellen muss.

Doch was soll der 16-jährige auf Fragen nach dem Wieso und Warum auch antworten? Dass er aus Verzweiflung, aus Angst vor Schlägen und Repressalien das Weite gesucht hat? Dass er einfach nur raus wollte aus der Enge, dem Mief, dem kleinbürgerlichen Scheiß der Elternhölle? Dass er keinen Bock hatte, sich von Altnazis den weiteren Lebensweg diktieren zu lassen?

Er schweigt, und doch versteht selbst ein Leser, der nicht in den Jahren aufwuchs, als die britische “Höhlenmenschenmusik“ die Bundesrepublik überflutete, worum es in der kurzen Lebensabschnittgeschichte geht. Es war die Zeit des Vietnamkrieges, die Ära des Widerstandes gegen die Notstandsgesetze und die damit verbundene Renaissance der Kontrollwut des Staates, in der „CG“, wie er sich lieber abgekürzt nennt, heranwuchs. An Schulen und Hochschulen entstanden Widerstandsnester, AUSS (Aktionszentrum-Sozialistischer Schüler) und SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) ließen junge Geister auf einen gesellschaftliche Wechsel hoffen.

So liegt es nahe, dass sich die beiden Flüchtlinge an den SDS wenden, dessen Genossen sich in einem verqualmten und nach abgestandenem Bier stinkenden Kellerloch treffen, um ihre Aktionen zu diskutieren. Die beiden Schüler können dort ein paar Tage pennen und werden von den Aktivisten durchgefüttert. Dafür helfen sie beim Verteilen von revolutionären Flugschriften und beim Kleben illegaler Plakate. Glück empfinden sie dabei ebenso wenig wie Freiheit. Vielmehr fühlen sie sich täglich dreckiger, hungriger, müder, verlorener und träumen von einer Badewanne.

Mal können sie eine Nacht auf dem Dachboden eines neuen Bekannten verbringen, mal bekommen sie einen Zehner oder ein paar Zigaretten zugesteckt. Doch sie bleiben auf der Flucht und spüren bereits, wie eng ihnen die Polizei auf den Fersen ist, denn die Eltern haben die Knaben als vermisst gemeldet, und volljährig wurde man in jenen Zeiten erst mit 21 Jahren. Clausgünter bekommt sogar Kontakt zu einer heimlichen Liebe, die ihn jedoch für einen gelackten Schleimer aufgibt, aber letztlich sind sie überall im Weg und müssen weiterziehen.

Von den neuen Weggefährten lernen sie auch neue Musik kennen, und so erklingen bald neben den Hits der „Animals“, von Manfred Mann, Dylan und Donovan auch zeitkritische deutschsprachige Stücke wie „Väterchen Franz“ und „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ von Franz Josef Degenhardt. Die Ausreißer füllen derweil ihre Kladden: Riemschneider, der Begabtere der beiden, füllt sein Skizzenbuch mit Zeichnungen, Skizzen und Porträts, die ihm Respekt einbringen, Petty versucht sich als Autor, kommt aber selten über den ersten Satz hinaus.

Auf ihrer Odyssee treffen sie auf andere Jugendliche, die sogar eine Band gegründet haben und damit auftreten. Sie tauschen sich über ihre Väter aus und erfahren, dass es kaum eine Familie gibt, in der es nicht nach Rebellion und Aufstand riecht. Ein Vater verfolgt seinen Sohn auf Schritt und Tritt und fühlt sich dabei als Kripo-Mann, der böse Buben beschattet, um sie auf frischer Tat zu ertappen. Ein anderer Vater platzt vor Stolz, bei der „heldenhaften“ SS gedient zu haben. Dessen Arbeitszimmer, er ist Direktor einer Schule, ist voll gepackt mit NS-Devotionalien und Andenken an Hitlers Mördertrupp. Von einer Aufarbeitung oder Überwindung der Nazizeit kann also keine Rede sein, im Gegenteil: Der Ungeist dringt aus allen Poren.

Es ist müßig, zu erzählen, wie die beiden Runaways letztlich wieder eingefangen und deportiert werden. In ihrer Planlosigkeit scheinen sie sogar froh zu sein, wieder nach Hause zu kommen und die Beine unter den elterlichen Tisch stellen zu können. Jedenfalls haben sie als Teil einer kleinen radikalen Minderheit den Ausbruch gewagt, im Ansatz ein anderes Leben versucht  und sogar ein Abenteuer erlebt, das ihre Nachhaltigkeit in ihrem Denken kaum verfehlen dürfte.

Unter diesem Aspekt bildet das vorliegende Buch des 1951 geborenen Autors eine lesenswerte Ergänzung zu den Erinnerungen, Geschichten und Legenden, die um die aufmüpfige Jugend der Wirtschaftswunderzeit  kreisen. Die alten Nazis, gegen die damals junge Leute rebellierten, sind längst Asche. Neue Nazis sind aus dieser Asche geschlüpft und dokumentieren, wie fatal es war, dass in der Bundesrepublik konsequent vermieden wurde, antifaschistische Werte in die Köpfe der Nachwachsenden  einzupflanzen.

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Genre: Biographien, Romane
Illustrated by Transit Buchverlag Berlin

2 Gedanken zu „Runaway

  1. Lieber Bücherprinz Rupi, Anna Else Bärbel Goldbek-Löwe geb. Strenger, von 1947 bis 1967 aufgewachsen und erzogen in der beklemmenden Ackerbürgerstadt sancta herfordia/ OWL, unweit Deiner Heimatstadt Oelde, dankt Dir lächelnd für Deine empathische Rezension von H.P. Daniels RUNAWAY. – Anders als Du, lieber Rupi, durfte ich als Bäckermeisterstochter damals nicht mal in den Beatschuppen SCALA gehen, die in einem Viertelstündchen von unserer Bäckerei in der Herforder Neustadt zu erreichen war. Diese Erziehung war dann im Frühjahr das beste Srpungbrett für meine Nestflucht zum Studium nach Berlin. Ach, so gerne wäre ich als “tomboy” Erzogene spätestens dort ein Junge gewesen. Das Macho-Gehabe der SDS-Kommilitonen am Institut für Publizistik und der Genossen von der Roten Zelle Publizistik (RotzPub) war sehr nervenzerfasernd, doch übte es ungemein ein in TROTZALLEDEM. 😉 * puck*

    • Es gab in jenen Tagen nur relativ wenige Mädchen, die ihrem Elternhaus entflohen waren. Die Runaways waren mehrheitlich junge Kerle. Wir bewunderten, verehrten und genossen die Damen, die trotz aller Widrigkeiten entkommen waren und ihre eigenen Wege gingen.

      Du darfst stolz sein, diese wilden Jahre des Unabhängigkeitskampfes – zumindest in Berlin – miterlebt und mitgestaltet zu haben. Das ist eine Lebensleistung, die dir niemand nehmen kann.

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