Montecristo

Die Guten sind die Guten und die Bösen sind die Bösen. In den meisten Krimis und Thrillern konventioneller Machart ist die Welt einfach noch in Ordnung. So ist es in aller Regel auch in gängigen Mainstream-Filmen der Fall – klare Strukturen, der Leser oder Zuschauer muss keine kognitiven Dissonanzen reduzieren. Irritierend wird es, wenn diese wohlbekannte Zuordnung ins Wanken gerät, wie zum Beispiel in der amerikanischen TV-Serie „Better Call Saul“, wo sich die Haupt-Protagonisten zu „moralischer Flexibilität“ bekennen. Wie moralisch flexibel ist Martin Suter oder besser seine fiktive Hauptfigur Jonas Brand im Krimi „Montecristo“?

Doch nach dieser ethisch anspruchsvollen Fragestellung sieht es die längste Zeit gar nicht aus. Der Video-Journalist Brand wird Zeuge eines „Personenschadens“ im abendlichen Zugverkehr der Berufspendler. Eine süffisante bis makabre Umschreibung des Umstandes, dass mal wieder ein vermeintlicher Suizid den wohlverdienten Feierabend stört. Dass Brand wenig später zwei identische Schweizer Franken-Banknoten in den Händen hält, wird von ihm wie von allen Experten als eigentlich völlig ausgeschlossene Rarität interpretiert.

Doch in Krimis ist es wie im Leben – (fast) nichts ist Zufall. Zieht man den Schauplatz der Story in der Schweizer Bankenmetropole Zürich mit ins Kalkül, wird die Richtung der Handlung schon vorhersehbarer. Alles hängt mit allem zusammen und am Ende droht – mal wieder – der Zusammenbruch der globalen Finanzwelt. Wie könnte es anders sein.

Der Schweizer Autor Martin Suter erhebt für sich den Anspruch, dass er spannende Kriminalhandlungen entwirft, diese für ihn aber eine eher untergeordnete Rolle spielen. Wichtig sind ihm in seinen Büchern gesellschaftskritische Ansätze. Dieser Intention folgt er ohne Zweifel auch in „Montecristo“.

Auf den ersten Blick möchte man das Buch nach der letzten Seite aus der Hand legen und sich mit der Erkenntnis beruhigen, dass Suter in seiner schriftstellerischen Freiheit einen Hang zu Übertreibungen auslebt. Aber dann denkt man an all das zurück, was über die weltweite Bankenkrise 2008 öffentlich wurde. Oder wie etwa zur gleichen Zeit der Trader Jérôme Kerviel mit seinen Fehlspekulationen bei der französischen Großbank Société Générale im Alleingang einen Milliardenschaden anrichtete. Ahnt man die beängstigende Realität, die vielleicht auch hinter Suters Roman stecken könnte, lässt sich auch das finale Szenario nicht so einfach mit einer sich selbst beruhigenden Affirmation „Naja, alles zu weit hergeholt“ abtun. Nein, es stellt sich sogar die Frage: Wie hätte ich selbst an Brands Stelle entschieden?

Und darin liegt vielleicht das, was diesen Krimi und diesen Autor besonders macht.

 


Genre: Krimi, Kriminalliteratur, Kriminalromane
Illustrated by Diogenes

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